- Hoch lebe die Grammatik!
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Frédéric Mermoud vergleicht das Kino zurecht mit einer Sprache oder einer Melodie. So wie aus Wörtern Sätze, Passagen, Kapitel und schliesslich Bücher entstehen, werden Einstellungen zu Szenen, Bildfolgen und schliesslich zu Filmen. Aus ihrer Aneinanderreihung beim Schneiden entsteht die Geschichte, so wie sich eine Melodie aus der Reihenfolge und der Länge der Noten ergibt.
Wie jede Sprache stützt sich das Kino also auf eine Grammatik, welche die Filmemacher seit den Anfangstagen formulieren und immer weiterentwickeln. Cineasten filmen nicht nach dem Zufallsprinzip. Sie entwickeln ihre Geschichte, indem sie sie strukturieren und gedanklich inszenieren. Vor den eigentlichen Dreharbeiten steht also eine aufwendige Vorbereitung. Dies umfasst das Schreiben des Drehbuchs, die Ausarbeitung des Storyboards, also des Szenenbuchs mit Sequenzen, Szenen und Einstellungen. Dies zeigt sich im folgenden Ausschnitt aus „Lost in La Mancha” (Grossbritannien, 2002) von Keith Fulton und Louis Pepe. Dieser Dokumentarfilm zeigt die Vorbereitung und die Dreharbeiten zu einem Film, den der Regisseur Terry Gilliam nicht fertigstellen konnte.
Wer die Kinosprache kennt, hat ein wichtiges Mittel zu Hand, um Filme zu entschlüsseln. Häufig aber fesselt die Geschichte die Zuschauerinnen und Zuschauer so sehr, dass ihnen die Konstruktion des Films entgeht. Manche Elemente dieser Grammatik sind so sogar fast unsichtbar. Dies gilt insbesondere bei filmischen Anschlüssen, die nur ein geschultes Auge erkennt. Diese Anschlüsse dienen zur Verbindung der Einstellungen, um den Ablauf der Geschichte glaubhaft zu machen und Kontinuität zu schaffen.
Im folgenden Ausschnitt aus „Der kleine Ausreisser” (USA, 1953) von Morris Engel und Ray Ashley sind mehrere Elemente der Filmsprache zu erkennen, die den Film ausmachen und dafür sorgen, dass er eine Geschichte erzählt: die Kameraposition, der Bildausschnitt, durch den die Begrenzungen des Bilds festgelegt werden, die Einstellungsgrössen, die Montage und natürlich die Blickachsenanschlüsse, von denen es mehrere gibt. Einer von ihnen liefert uns eine wichtige Information, mit der wir die Szene und die Enttäuschung unseres jungen Helden verstehen können.
Wenn der Regisseur sich dafür entschieden hat, diese Szene auf der Augenhöhe des Kindes zu drehen, dann deshalb, weil er dem Blickwinkel, den sein Protagonist auf die Umwelt hat, so nahe wie möglich kommen will. Indem er uns zunächst zeigt, wie der Junge auf eine Flaschenpyramide wirft, und uns dann die unversehrte Pyramide sehen lässt, schafft er einen Blickachsenschluss, durch den uns klar wird, dass der Junge daneben geworfen hat. Ohne die zweite Einstellung könnten sich die Zuschauerinnen und Zuschauer den konsternierten Ausdruck des Jungen nicht erklären.
- Der unglaubliche K-Effekt
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In der ersten Szene aus „Mitgegangen, mitgehangen”, der kleinen Kinoschule von Frédéric Mermoud zum Thema Blickachsenanschluss, lässt sich an der Figur von Alice die Funktion des Blickachsenanschlusses sehr gut nachvollziehen: Erst als die Zuschauerinnen und Zuschauer erkennen, was die Protagonistin sieht (nacheinander Leckereien, eine tote Taube und einen hübschen Jungen), verstehen sie, was Alice fühlt.
Die Szene spielt auf den berühmten „Kuleschow-Effekt” bzw. „K-Effekt” an, einen Schnitteffekt, den der sowjetische Theoretiker und Regisseur Lew Kuleschow Anfang der 1920-Jahre am Publikum ausprobierte. Das Experiment besteht einfach darin, zu analysieren, wie der Gesichtsausdruck des Schauspielers Iwan Mosjukhin sich zu verändern scheint, je nachdem, worauf er mutmasslich blickt. Probieren wir es aus…
Der Legende nach rühmten die Zuschauerinnen und Zuschauer bereits beim blossen Anblick des Tellers Suppe, des Mädchens im Sarg und der auf dem Diwan ruhenden jungen Dame die Schauspielkunst Mosjukhins und interpretierten intuitiv seinen Gesichtsausdruck jeweils als Hunger, Trauer und Begierde.
Der Kuleschow-Effekt beleuchtet zwei wichtige Aspekte. Erstens ergeben Einstellungen alleine noch keinen Sinn, sondern erst ihre Verbindung durch die Montage. Zweitens hat die Montage einen entscheidenden Einfluss auf die Wirkung des Schauspielers. Der Schauspieler, der den Kuleschow-Effekt demonstriert, spielt nämlich überhaupt nicht. Es ist allein die Tatsache, dass sein Gesicht mit verschiedenen Bildern in Verbindung gebracht wird, die uns den Eindruck eines Stimmungswechsels vermittelt.
Der Blickachsenanschluss hat somit einen entscheidenden Einfluss auf das Spiel des Darstellers, der theoretisch nicht einmal eine Emotion vortäuschen müsste, da bereits die Verbindung zwischen seinem Gesicht und dem Teller Suppe ausreicht, seinen Hunger zu verdeutlichen.
- Vehikel für Emotionen und Erzählung
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Der Blickachsenanschluss kann nicht nur Gefühle wie Begierde oder Spannung erzeugen, sondern auch wichtige Informationen über die Geschichte liefern, die sich vor unseren Augen entfaltet. Diese verschiedenen Funktionen hat Alfred Hitchcock in seinem Meisterwerk „Das Fenster zum Hof" (USA, 1954) umfassend eingesetzt. Der Film erzählt die Geschichte eines Mannes, der - wegen eines Gipsbeins in der Wohnung gefangen - seine Tage damit verbringt, durch das Fenster seine Nachbarn zu beobachten. Was vermitteln uns im folgenden Ausschnitt die Einstellungswechsel?
Aus dem Wechsel zwischen den Einstellungen auf den Schauspieler und dem, was er sieht, erkennen wir die Gründe für seine Erheiterung, seine Neugier und sein Erstaunen. Diese Blickachsenanschlüsse sind für das Verständnis seiner Reaktionen somit unverzichtbar. Sie spielen aber auch eine symbolische Rolle, da sie uns zu Komplizen seines Voyeurismus machen, gerade dann, wenn er ein Teleobjektiv zur Hand nimmt, um seine Nachbarn noch genauer ins Visier zu nehmen.
Die Kamera begnügt sich nicht länger damit, uns das von ihm Gesehene zu zeigen, sondern verschmilzt förmlich mit seinem Blick. Deshalb spricht man hier nicht mehr nur von einem Blickachsenanschluss, sondern von einer Subjektive. Eine solche Einstellung setzt Mike Nichols mit Finesse und Humor in „Die Reifeprüfung” (USA, 1967), der Geschichte des frischgebackenen College-Absolventen Benjamin Braddock, ein.
Indem sie den Blickwinkel der Zuschauerinnen und Zuschauer auf das verengt, was Benjamin durch seine Tauchermaske sieht, verstärkt die Kamera das Gefühl der Einsamkeit des jungen Mannes, der sich der Welt seiner Eltern und der Zukunft, die sie für ihn geplant haben, fremd fühlt.
- Alles eine Frage des Anschlusses
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Auch wenn gerade der Blickachsenanschluss das Empfinden einer Figur sehr gut zum Ausdruck bringt, lassen sich auch mit anderen Methoden die Einstellungen so aneinander anschliessen, dass die Geschichte flüssig und natürlich erzählt wird und die Zuschauerinnen und Zuschauer mitunter vergessen, dass sie einen Film sehen. Diese Anschlüsse dienen dazu, den erdachten Raum, in dem die Geschichte spielt, einheitlich und überzeugend zu gestalten; schliesslich hat er ja meist wenig mit den tatsächlichen Gegebenheiten im Studio gemeinsam…
Wie dieser Ausschnitt aus dem Stummfilm „Kindergesichter" (Frankreich, 1923) von Jacques Feyder zeigt, kam der Anschluss schon sehr früh in der Geschichte des Kinos zum Einsatz. Durch die Anschlusstechnik gelingt es, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer Innenaufnahmen, die aus einem Pariser Filmstudio stammen, mit Aussenaufnahmen, die im Schweizer Val d'Anniviers gedreht wurden, in Einklang bringen.
Wenn wir uns mit jemand unterhalten, dann in der Regel von Angesicht zu Angesicht. Um dies auf der Leinwand überzeugend darzustellen, setzen die Filmemacher oft die Technik von Schuss-Gegenschuss ein.
Der Schuss bezeichnet das, was die Kamera „sieht", also den gefilmten Raum. Dem entgegen steht der Gegenschuss: Wenn ein Regisseur also eine Dialogszene im Schuss-Gegenschuss dreht, zeigt er zunächst eine Figur, die gerade spricht, und anschliessend im Gegenschuss ihren Gesprächspartner.
Damit ein solcher in Schuss-Gegenschuss-Technik gezeigter Dialog überzeugend wirkt, muss der Eindruck erweckt werden, dass die Figuren sich anschauen. Dazu gilt es die berühmte 180°-Regel zu beachten. Dabei wird eine imaginäre gerade Linie zwischen den beiden Gesprächspartnern gezogen. Für den Schuss wird die Kamera auf einer Seite dieser gedachten Linie aufgestellt. Beim Gegenschuss MUSS die Kamera auf derselben Seite dieser Linie bleiben. Ansonsten hätten die Zuschauerinnen und Zuschauer nicht den Eindruck, dass die Figuren einander anschauen.
Fast alle Dialogszenen sind nach diesem Grundsatz aufgebaut, wie in diesem Ausschnitt aus dem „Zauberer von Oz" (USA, 1939) von Victor Fleming.
In diesem Ausschnitt ist klar zu erkennen, dass die Kamera stets auf derselben Seite der gedachten Linie bleibt, auch wenn sie immer wieder zwischen der Hexe auf der rechten Seite und Dorothy mit ihren Freunden auf der linken Seite hin- und herspringt. Die Schuss-Gegenschuss-Technik ist also wie aus dem Lehrbuch eingesetzt.
In diesem Ausschnitt aus dem Film „Take Shelter - Ein Sturm zieht auf" (USA, 2011) von Jeff Nichols braut sich am Himmel Unheil zusammen. Die Spannung entsteht insbesondere durch die Art und Weise, wie der Regisseur den Anschluss in der Achse vornimmt.
Zu Beginn werden die Figuren von vorn gezeigt, in Nahaufnahme. Dank eines Blickachsenanschlusses auf einen Vogelschwarm springt die Kamera plötzlich hinter sie auf die Achse der Strasse. Ab diesem Zeitpunkt wird die gesamte Szene in dieser Achse gezeigt, als ob die Kamera sich auf ihr hin und her bewegen würde. Dadurch kann sie sich über die Figuren hinweg annähern und wieder entfernen. Der Achsenanschluss zieht somit eine Folge mehr oder weniger naher Einstellungen nach sich, die eine enorme Schockwirkung vermitteln und den verstörten Gesichtsausdruck des Vaters unterstreichen.
Mit dem Anschluss in der Bewegung lässt sich der Eindruck vermitteln, dass eine Bewegung von einer Einstellung in die nächste übergeht, wie in dem folgenden Ausschnitt aus „Die Nacht ist jung" (Frankreich, 1986) von Leos Carax.
Der junge Mann geht zunächst nach links aus dem Bild. In der darauffolgenden Einstellung tritt er nach rechts ins Bild. Dieser Bewegungsanschluss vermittelt das Gefühl einer räumlichen Einheit. Die Figur beginnt nun zu laufen. Zu Beginn wird die Bewegung per Kamerafahrt in einer Plansequenz gefilmt. Danach werden mehrere Einstellungen aneinander angeschlossen, indem die entsprechenden Aufnahmen des Schauspielers und insbesondere seiner Körperteile so weit wie möglich in Deckung gebracht werden. Durch den Anschluss der Bewegungen in diesen verschiedenen Einstellungen gewinnen die Zuschauerinnen und Zuschauer den Eindruck, dass dieser Lauf am Stück gefilmt wurde. In Wirklichkeit wurde die Szene in mehreren Takes aufgenommen und sehr aufwändig zusammengesetzt.
Sechsundzwanzig Jahre später zitiert der Regisseur Noah Baumbach in seinem Film „Frances Ha" (USA, 2012) diese mittlerweile Kult gewordene Szene, nimmt sich dabei aber einige Freiheiten. Welche?
Zunächst einmal filmt der Regisseur den Lauf seiner Protagonistin in umgekehrter Richtung. Ausserdem zeigt er den Lauf nicht kontinuierlich mithilfe von Bewegungsanschlüssen, sondern setzt „Jump Cuts”, harte Schnitte, ein. Dabei werden einige Sekunden einer Szene weggeschnitten, sodass ein Sprung zwischen zwei Einstellungen entsteht.
Der Jump Cut verstösst gegen die klassischen Regeln der Montage und kann absichtlich als falscher Anschluss eingesetzt werden. Der französische Regisseur Louis Malle hat daraus sein Markenzeichen gemacht. Was lässt über die Anschlüsse in dieser Szene aus „Zazie in der Metro” (Frankreich, 1960) sagen?
Zazie befindet sich auf einmal rechts von ihrem Onkel, obwohl sie eigentlich links sein sollte. Das Essen fehlt urplötzlich auf den Tellern, die Haushaltshilfe entschwindet wie von Zauberhand aus dem Bild. Louis Malle hat absichtlich mehrere falsche Anschlüsse, Achsensprünge, Ellipsen und Jump Cuts eingebaut, um seinen Film mit Absurdität und Komik zu würzen.
- Filmfehler
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Während die falschen Anschlüsse von Louis Malle gezielt eingesetzt wurden, gibt es durchaus auch „echte" falsche Anschlüsse, die alles andere als Absicht waren und somit richtige „Filmfehler" darstellen. Letztlich ist kein Filmemacher vor einem solchen Fehler gefeit, was sich auch leicht erklären lässt! Die Szenen eines Films werden häufig in ganz anderer Reihenfolge und mitunter mit mehreren Wochen Abstand gedreht. Als Script Supervisor gilt es deshalb, gewissenhaft sämtliche Einstellungsdetails (Accessoires, Kostüme, Beleuchtung, Position der Schauspieler usw.) zu vermerken, um die Kontinuität der Einstellungen über die Aufnahmen hinweg zu gewährleisten.
Wenn in einem Film ein unbeabsichtigter falscher Anschluss zu sehen ist, dann ist dieses Detail wahrscheinlich dem Script Supervisor entgangen, etwa in dieser Szene aus „Pretty Woman" (USA, 1990) von Garry Marshall mit einer lustigen Verwandlung.
Die von Julia Roberts und Richard Gere gespielten Figuren lernen sich gerade bei dem in Schuss-Gegenschuss-Technik gefilmten Frühstück etwas besser kennen, als das Croissant in Julia Roberts' Hand plötzlich zu einem Pancake wird!
Falscher Anschluss? Richtig! Und wenn wir schon einmal dabei sind, hier noch ein Beispiel aus dem Film „Fluch der Karibik” (USA, 2003) von Gore Verbinski.
Um diesen falschen Anschluss zu entdecken, braucht es ein gutes Auge! Als er vom Boot springt, setzt der Pirat Jack Sparrow den rechten Fuss nach vorn … um dann mit dem linken Fuss auf dem Steg zu landen! Ein solcher Fehler fällt meist erst beim Schneiden auf, wenn es bereits zu spät ist, um die Szene noch einmal nachzudrehen.
- Über Frédéric Mermoud
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Der 1969 im schweizerischen Sitten geborene Regisseur Frédéric Mermoud schuf zunächst mehrere Kurzfilme, von denen die Mehrzahl prämiert wurde. 2009 drehte er seinen ersten Langspielfilm „Komplizen”, einen Thriller, in dem zwei Polizeiinspektoren versuchen, den Tod eines Jugendlichen aufzuklären. Auch sein zweiter Spielfilm „Moka” (2016) ist diesem Genre zuzuordnen. Er erzählt die Geschichte einer Mutter, die einen Verkehrsrowdy ausfindig machen will, den sie für den Tod ihres Sohnes verantwortlich macht.
Zudem hat Frédéric Mermoud für Canal+ die zweiten Staffeln der Serien „The Returned” und „Engrenages” gedreht.
Bei der Erfahrung unterlaufen diesem Cineasten, der den Genrefilm liebt und mit der Filmsprache spielt, nicht mehr allzu viele falsche Anschlüsse!