- Sich in eine Figur hineinversetzen
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Der Beruf des Schauspielers verlangt, dass man sich in fiktive Figuren einfühlen kann und diese glaubhaft darstellt, indem man ihre Gefühle (oder manchmal ihre Gefühllosigkeit) erlebbar macht. Deshalb muss sich eine Schauspielerin oder ein Schauspieler vor den Dreharbeiten auf dieses Rollenspiel vorbereiten. Er oder sie muss also nicht nur den Dialog auswendig lernen und die Aussprache üben, sondern auch die Figur aufbauen, indem er oder sie deren Charaktereigenschaften übernimmt, sich ihr Verhalten und ihre Reaktionsweisen aneignet usw.
Der nachfolgende Ausschnitt stammt aus dem Making-of von „Shining“ (USA, 1980) von Stanley Kubrick. Darin ist zu sehen, wie sich der Schauspieler Jack Nicholson in seine Figur hineinversetzt, bevor eine Schlüsselszene des Films gedreht wird.
Um sich in die Rolle dieses Mannes, der langsam den Verstand verliert, einzufühlen, wärmt sich Jack Nicholson körperlich und mental auf - mit einer beeindruckenden Intensität! Um dies zu erreichen, wendet er die berühmte Methode des Actors Studio an, die in den 1950er-Jahren entwickelt wurde. Diese besteht darin, die Emotionen aus den eigenen Erlebnissen zu schöpfen.
- Ein Spiel, das sich entwickelt
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Seit den Anfängen des Kinos hat sich die Schauspielkunst stetig weiterentwickelt. Ein Schauspieler in einem Stummfilm bewegt sich nicht gleich wie ein Darsteller aus den 1940er-Jahren, ebenso wie eine Schauspielerin aus den 1960er-Jahren nicht die gleiche Sprechweise hat wie ein Filmstar aus dem Jahr 2010. Genauso wie sich die Art des Filmemachens über die verschiedenen Epochen hinweg und zusammen mit dem technischen Fortschritt verändert hat, wandelte sich auch die Art des Spielens.
Was kann man über die Spielweise der Schauspielerin Brigitte Helm im nachfolgenden Ausschnitt sagen? Er stammt aus „Metropolis“ (Deutschland, 1927) von Fritz Lang, einem der Meisterwerke der Stummfilmzeit.
Die Spielweise der Schauspielerin, ihre Gesten und die Art, wie sie die Augen aufreisst, sind sehr ausdrucksstark und übertrieben. Diese Art des Schauspiels stammt aus dem Theater, wo Bewegungen und Ausdruck überdeutlich dargestellt werden müssen, damit auch die Zuschauerinnen und Zuschauer in den hintersten Reihen dem Geschehen gut folgen können. In Stummfilmen übernahmen die Darstellerinnen und Darsteller diese Spielweise, um das Fehlen von Dialogen zu kompensieren und dem Publikum das Verständnis zu erleichtern. Zudem musste der Gesichtsausdruck wegen der niedrigen Lichtempfindlichkeit des Films mithilfe von ausdrucksstarker Schminke betont werden, was ihr Spiel ein wenig starr erscheinen liess.
Die Regisseurinnen und Regisseure der Stummfilme bemerkten schnell, dass das Kino mehr Ausdrucksmöglichkeiten bot, wenn man auf Montage und verschiedene Einstellungsgrössen (Grossaufnahme, Nahaufnahme, Totale usw.) zurückgriff. Mit anderen Worten: Durch das Zerlegen der Szenen in mehrere Einstellungen erlangte das Kino eine grosse Ausdruckskraft. Deshalb wurde das Spiel der Darstellerinnen und Darsteller immer subtiler.
Im nachfolgenden Ausschnitt aus „Singin' in the Rain“ (USA, 1952) von Stanley Donen und Gene Kelly, der als „Lass mich dein Glücksstern sein“ in den deutschsprachigen Kinos lief, streiten sich die Figuren, gespielt von Gene Kelly und Debbie Reynolds, über die Schauspielkunst im Theater und im Kino.
Während die von Debbie Reynolds verkörperte junge Dame die Filmschauspieler mit blossen Schatten vergleicht, macht sich der Mann (Gene Kelly) über die Theaterdarsteller lustig, indem er seine Entgegnungen, Gestik und Mimik überzeichnet darstellt. Beim Theater ist das Spiel in der Tat ausdrucksvoller als beim Film. Im Theater findet das Geschehen auf einer Bühne statt, und auch die Zuschauerinnen und Zuschauer in den hintersten Reihen müssen die Gesten und den Gesichtsausdruck der Darstellerinnen und Darsteller erkennen können.
Im Kino ist das ganz anders: Die Art, wie eine Schauspielerin spielt, hängt von der Einstellung ab, zum Beispiel, ob sie in Grossaufnahme oder Totale gefilmt wird. Sie muss ihre Spielweise deshalb der szenischen Auflösung, der Inszenierung, anpassen. Weiss die Darstellerin zum Beispiel, dass ihr Gesicht in einer Grosseinstellung gefilmt wird, arbeitet sie auf subtile Weise mit ihrer Mimik. Dies kann man im nachfolgenden Ausschnitt aus „Opening Night“ (USA, 1977) von John Cassavetes beobachten. Darin verkörpert Gena Rowlands die Rolle einer Frau, der der Tod einer jungen Verehrerin keine Ruhe lässt.
Im Gegensatz dazu spielt ein Schauspieler, der weiss, dass er in einer Totale gefilmt wird und dass ihn die Zuschauer deshalb nur aus einer gewissen Entfernung sehen, auf ausdrucksvollere Weise, indem er seine Gesten und Bewegungen stärker betont.
Natürlich gibt es noch weitere Unterschiede zwischen dem Schauspiel im Theater und im Film. Der Theaterdarsteller spielt das Stück ohne Unterbruch durch. Falls er im Text steckenbleibt, kann er sich nicht nachträglich korrigieren. Ein Filmschauspieler kann noch einmal von vorne beginnen, wenn er einen Fehler gemacht hat. Beim Film ist aber grosse Konzentration nötig, weil die Szenen meistens nicht in der richtigen Reihenfolge gedreht werden. Der Schauspieler muss deshalb das Drehbuch genau kennen, damit er jedes Mal „richtig“ spielen kann.
- Immer in Bewegung
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Die Spielweise im Kino entwickelte sich nicht nur mit der Zeit weiter, sondern sie unterscheidet sich auch in Bezug auf die verschiedenen filmischen Strömungen, Stilrichtungen oder Genres. Ende der 1950er-Jahre beispielsweise arbeiteten die Regisseurinnen und Regisseure der französischen Stilrichtung Nouvelle Vague nach einer besonderen Methode und drehten Filme, die die Zuschauer daran erinnerten, dass ein Kinofilm eine Fabrikation, ein Kunstgebilde, ist. Dafür verlangten sie von ihren Schauspielerinnen und Schauspielern, dass sie sich nicht hinter ihrer Figur versteckten und sich an eine ganz bestimmte Sprechweise hielten, auch auf die Gefahr hin, dass sie dadurch weniger natürlich erschienen. Dies lässt sich im nachfolgenden Ausschnitt aus „Jules und Jim“ (Frankreich, 1962) von François Truffaut gut beobachten. Darin sieht man, wie das Mienenspiel der Darstellerin durch den Einsatz von Standbildern betont wird.
In diesem Ausschnitt spricht die Schauspielerin Jeanne Moreau auf sehr nachdrückliche, wenig natürliche Weise und erinnert das Publikum so daran, dass es einen Film vor sich hat. Die Standbilder betonen diesen Effekt noch.
Die Spielweise unterscheidet sich auch in Bezug auf die Filmgenres. In einer Komödie spielt man anders als in einem Horrorfilm. Was kann man im nachfolgenden Ausschnitt aus „Manche mögen's heiss“ (USA, 1959) von Billy Wilder zu der Spielweise der Darstellerinnen und Darsteller sagen?
Man sieht, dass die Schauspieler, die in dieser Komödie mit Marylin Monroe die beiden als Frauen verkleideten Musiker spielen, viel gestikulieren und dass ihre Mimik ziemlich ausgeprägt ist. Das ist oft der Fall bei Komödien, die auf Verkleidung basieren und in denen es den Männern mehr schlecht als recht gelingt, als Frauen durchzugehen. Und wie in jeder Komödie müssen die Darsteller vor allem die Dialoge in den Vordergrund stellen, indem sie diese besonders betonen.
Die Spielweise unterscheidet sich nicht nur nach Genre, sondern sie hat sich auch zusammen mit der Filmtechnik weiterentwickelt. Heute ist der Grossteil der Blockbuster mit zahlreichen Spezialeffekten gespickt. Die Schauspielerinnen und Schauspieler arbeiten dabei vor einem blauen oder grünen Hintergrund, in den später die Computergrafiken der Szenerie, in der sie eigentlich spielen sollten, eingebettet werden. Bei dieser Art Dreharbeiten spielen die Darstellerinnen und Darsteller also im leeren Raum, manchmal sogar ohne ihr Gegenüber. Sie müssen ein ausgezeichnetes Vorstellungsvermögen unter Beweis stellen, um sich in ihre Figuren hineinversetzen zu können, wie der nachfolgende Ausschnitt zeigt. In „Der Herr der Ringe: Die Gefährten“ (Neuseeland, 2001) von Peter Jackson spielte der Schauspieler Ian McKellen die Szene vor einem grünen Hintergrund und selbstverständlich nicht im Angesicht einer Sagengestalt.
Ian McKellen, der hier in die Rolle des Zauberers Gandalf schlüpft, stand der Vorstellung, dass er imaginäre Feinde vor einem simplen grünen Hintergrund bekämpfen sollte, äusserst kritisch gegenüber. „Für so etwas bin ich nicht Schauspieler geworden“, gestand er einem Journalisten, der ihn zur Entwicklung des Schauspielerberufs befragte.
- Spielen ... aber wie?
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Die Arbeit eines Schauspielers besteht daraus, Gefühle wie Freude, Angst, Hoffnung, Besorgnis oder Bewunderung auszudrücken. Es gibt heute zwei Hauptmethoden der Schauspielkunst. Bei der Methode des Actors Studio durchlebt der Schauspieler die Gefühle seiner Figur intensiv.
Die andere Methode stützt sich auf eine mechanischere Wiedergabe der Empfindungen, wobei die Gefühlswelt der Figuren vorwiegend durch die Montage der Einstellungen und die Inszenierung übermittelt wird. Als Verfechter dieser Methode (abgeleitet vom „K-Effekt“ oder „Kuleschow-Effekt“, einem Montage-Effekt, der vom sowjetischen Regisseur Lew Kuleschow theoretisch beschrieben wurde) verlangte beispielsweise Alfred Hitchcock von seinen Schauspielern, dass sie in ihrem Spiel neutral oder schematisch blieben, wie man im nachfolgenden Ausschnitt aus seinem Film „Der unsichtbare Dritte“ (USA, 1959) beobachten kann.
In dieser Szene wird die Figur Roger Thornhill, die vom amerikanischen Schauspieler Cary Grant gespielt wird, fälschlicherweise des Mordes angeklagt. Es ist eher die Inszenierung als seine sehr zurückhaltende Spielweise, die den Zuschauer die Angespanntheit und den verwirrten Zustand der Figur spüren lassen.
Die berühmte Methode des Actors Studio basiert auf einer Theatertechnik, die von dem Russen Constantin Stanislawski erfunden und dann an die Gegebenheiten des Kinos angepasst wurde. Eine ganze Generation von Filmstars wurde nach dieser Methode ausgebildet, darunter James Dean, Steve McQueen, Marylin Monroe und Elizabeth Taylor.
Die Methode geht von der Annahme aus, dass ein Schauspieler nichts nachspielen muss. Weil er nämlich selbst menschlich ist, kann er die Emotionen seiner Figur aus sich selbst schöpfen. Dies zeigt der nachfolgende Ausschnitt aus „Wie ein wilder Stier“ (USA, 1980) von Martin Scorsese, in dem sich der Boxer Jake LaMotta (gespielt von Robert De Niro) nach einigen unglücklichen Vorfällen im Gefängnis wiederfindet. Wie lässt sich die Spielweise dieses gefallenen Helden beschreiben?
Robert De Niro spielt die Szene intensiv, fast animalisch, um zu zeigen, welch unbändige Wut in Jake LaMotta brodelt. Dafür schöpft er aus seinen eigenen physischen und psychischen Erinnerungen; zweifellos erinnert er sich an eine erlebte Situation, in der er sich selbst ungerecht behandelt fühlte.
Der Einfluss des Actors Studio auf die Schauspielkunst war so gross, dass Darstellerinnen und Darsteller heute noch auf ähnliche Techniken zurückgreifen. Ursula Meier arbeitet mit einer vergleichbaren Methode, um ihre Schauspielerinnen und Schauspieler anzuleiten: Sie erwartet von ihnen, dass sie ihre mentalen und körperlichen Erinnerungen nutzen, um ihre Rolle zu verkörpern.
Auch aus diesem Grund greift sie manchmal auf Laiendarsteller zurück. Wenn sie eine ganz bestimmte Figur benötigt, zum Beispiel einen Polizisten oder einen Arzt, was würde sich da besser eignen, als ein echter Polizist oder Arzt, um die Gestik, die Körperhaltung und das Vokabular seines Berufs anzunehmen? Allerdings muss die ausgewählte Person schauspielern können, das heisst, sie muss die Gefühle der Figur aus sich selbst schöpfen können, um sie vor der Kamera wiederzugeben. Deshalb ist auch bei der Rekrutierung eines Laien ein Casting notwendig, um herauszufinden, ob er oder sie schauspielern kann.
In dem Spielfilm „Die Klasse“ (Frankreich, 2008) erzählt der Regisseur Laurent Cantet vom Alltag eines Lehrers einer Klasse in einem Pariser Gymnasium. Um diese Geschichte so wirklichkeitsnah wie möglich wiederzugeben, entschied sich der Regisseur, mit jungen Laienschauspielerinnen und Laienschauspielern zu arbeiten. Wirken sie natürlich?
Ohne Zweifel! Die jungen Schauspielneulinge wirken sogar verblüffend natürlich. Ihre Rolle als Gymnasiastinnen und Gymnasiasten spielen sie perfekt. Sie sind „echt“, beinahe sie selbst. Sie drücken sich in ihrer eigenen Sprache, ihren eigenen Worten und Ausdrücken und mit einem natürlichen Zögern aus, was dem Film eine sehr realistische Wirkung verleiht. Durch den Einsatz von Laien kann man einem Spielfilm daher Authentizität verleihen.
Beim Film gibt es also zwei hauptsächliche Spielweisen: Entweder stellt der Regisseur den Schauspieler in den Vordergrund und verlangt von ihm, dass er aus seinem eigenen Innenleben schöpft, wie zum Beispiel Ursula Meier, oder er erwartet eine neutrale Spielweise von ihm, und die Inszenierung erzeugt fast die gesamte Wirkung, wie etwa bei Alfred Hitchcock.
- Schauspielerinnen und Schauspieler anleiten
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Eine Schauspielerin wird bei den Dreharbeiten von der Regisseurin angeleitet, diese gibt ihr Anweisungen, wie sie ihre Figur darstellen soll. Das nennt man Schauspielerführung. Die Art, wie Regisseure Schauspieler anleiten, kann sehr unterschiedlich sein. Die einen geben sehr präzise Anweisungen, andere lassen Schauspielerinnen und Schauspieler oft improvisieren.
Bei den Dreharbeiten muss sich der Darsteller in eine Figur einarbeiten, von der der Regisseur oft eine sehr genaue Vorstellung hat. Je nach Art der Schauspielerführung kann sich das Spiel eines Darstellers von einem Film zum anderen, und vor allem von einem Regisseur zum anderen, stark unterscheiden, wie die nachfolgenden Ausschnitte auf packende Art zeigen. In allen ist der amerikanische Filmstar Johnny Depp zu sehen.
Der erste Ausschnitt, der aus „Gilbert Grape - Irgendwo in Iowa“ (USA, 1993) von Lasse Hallström stammt, zeigt Johnny Depp in der Rolle eines jungen Mannes, der auf seinen behinderten Bruder aufpassen muss. Was kann man zu seiner Spielweise sagen?
Johnny Depp verkörpert hier eine wortkarge und eher introvertierte Figur, die er auf nüchterne und verhaltene Art spielt. Einige Jahre später schlägt er einen komplett anderen Ton an, wie dieser Ausschnitt aus „Charlie und die Schokoladenfabrik“ (USA, 2005) von Tim Burton deutlich macht.
Um die gotische, extravagante Welt des Regisseurs Tim Burton einzufangen, spielt Johnny Depp in diesem Film in einem sehr ausdrucksvollen Stil und überzeichnet die Mimik und Gestik, die ihm Tim Burton, der für seine sehr fordernde Schauspielerführung bekannt ist, zweifellos vorgeschrieben hat.
In „Pirates of the Caribbean: Fluch der Karibik 2“ (USA, 2006) von Gore Verbinsky verkörpert derselbe Schauspieler die Rolle des Kapitäns Jack Sparrow, ein komplett durchgeknallter Pirat, wie der nachfolgende Ausschnitt zeigt.
Er liess sich von den extravaganten Rollen, die Tim Burton ihm anvertraut hatte, inspirieren und schuf sich seine Figur selbst. Als Schauspieler mit Starstatus kann er sich das erlauben und lässt sich nicht mehr vom Regisseur anleiten, der bei diesem sehr kostspieligen Blockbuster am Set sicher auch sonst alle Hände voll zu tun hat. Das Ergebnis: Er trägt ein bisschen zu dick auf und wirkt affektiert!
Die verschiedenen Ausschnitte zeigen also, dass sich Johnny Depp im Laufe der Zeit eine extravagante Figur aufgebaut hat - eine Rolle, die ihm eigen ist und auf die ihn die Regisseure und Filme heute gern festlegen. Deshalb entwickelt er seine Spielweise heute kaum noch weiter. Zum Glück für ihn bieten ihm Regisseure manchmal riskantere Rollen an, die man dann als untypische Rollen bezeichnet, wie beispielsweise in „Black Mass“ (USA, 2015) von Scott Cooper, in dem er einen ruchlosen Gangster spielt.
In dieser Szene spielt Johnny Depp viel weniger überzogen, was darauf hindeutet, dass der Regisseur ihn wohl ziemlich gut angeleitet haben muss. So hat er an seiner Stimme gearbeitet, um in die Rolle eines durchtriebenen, hinterhältigen und äusserst ungehobelten Verbrechers zu schlüpfen. Man spricht von einer untypischen Rolle, weil die Rolle nicht denen entspricht, für die Johnny Depp normalerweise gecastet wird. Deshalb ist es wichtig, dass Schauspielerinnen und Schauspieler von der Regie angeleitet werden, da sie sonst dazu tendieren, das zu wiederholen, was sie bereits gut können.
Den Darstellerinnen und Darstellern in Ursula Meiers Filmen könnte dies nie passieren, denn die Regisseurin bringt sich bei der Führung der Schauspieler stark ein. Ihre Regieanweisungen sind sehr präzise und betreffen Gefühle, Gestik und Gang genauso wie die Position im Raum. Auch dem Körper der Schauspieler misst Meier eine grosse Bedeutung zu, der Art, wie sie sich darin fühlen, wie sie ihm Leben einhauchen. Sie weiss auch, wie weit sie mit ihren Erwartungen gehen kann und welche Grenzen sie respektieren muss.
Im Gegensatz dazu leiten andere Regisseurinnen und Regisseure ihre Schauspielerinnen und Schauspieler nur in geringem Masse an und lassen mehr Raum für Improvisation. Dieser Ansatz kann ein Klima des Vertrauens schaffen, das die Darsteller selbst sehr kreativ werden lässt und sie ermutigt, ihre eigenen Ideen einzubringen.
Dies ist der Fall beim französischen Regisseur Olivier Assayas, der vor dem Drehen keinerlei Proben durchführt. Wenn die Darstellerinnen und Darsteller am Set eintreffen, gibt er ihnen einige grobe Anweisungen zur Szene, die gedreht werden soll, und lässt sie dann vor der Kamera völlig frei agieren. Dies wird im nachfolgenden Ausschnitt aus „Die Wolken von Sils Maria“ (Frankreich, 2014) deutlich, in dem die beiden Schauspielstars Juliette Binoche und Kristen Stewart zu sehen sind.
Mit dieser Technik, die teilweise auf Improvisation beruht, lassen sich sehr spontane Ergebnisse erreichen. Selbstverständlich wird dieselbe Szene mehrmals gedreht, und der Regisseur bringt seine Schauspieler jedes Mal etwas näher an das gewünschte Resultat.
Ob autoritär oder sehr frei, die Schauspielerführung ist daher Teil des Handwerks der Regisseurin, das sie beherrschen muss. Die Beziehung der Regisseurin oder des Regisseurs mit jeder einzelnen Schauspielerin und jedem einzelnen Schauspieler macht diese echte künstlerische Zusammenarbeit aus. Idealerweise basiert sie darauf, dass man aufeinander eingeht, um gemeinsam ein Werk schaffen.
Die Schauspielerführung trägt deshalb entscheidend zum Wesen eines Films bei: Bei jeder Einstellung und jeder Szene des Films müssen die Darstellerinnen und Darsteller die nötigen Anweisungen erhalten, damit sich ihre Figur in einer Situation gemäss dem Drehbuch und den Vorstellungen der Regie verhält.
- Über Ursula Meier
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Die französisch-schweizerische Regisseurin und Drehbuchautorin Ursula Meier studierte Filmwissenschaften in Brüssel. Sie führte zuerst bei mehreren Kurzfilmen Regie, und deren Erfolg an Festivals gab ihr den Mut, ihre Filmkarriere weiterzuverfolgen. 2002 drehte sie ihre ersten Filme in Spielfilmlänge: „Weder Polizei noch Schwarz noch Weiss“, einen Dokumentarfilm, der die erstaunliche Wandlung eines Genfer Polizisten beschreibt, und „Die Sprinterin“, einen Spielfilm, der die Geschichte einer Jugendlichen erzählt, die Spitzensportlerin werden will.
2008 führte sie bei ihrem ersten Kinofilm „Home“ Regie, eine aufwühlende Darstellung einer dysfunktionalen Familie, die am Rand einer sich im Bau befindenden Autobahn lebt. Mit „Winterdieb“ drehte sie 2012 eine eindringliche Parabel über soziale Ungleichheit und den Mangel an Liebe, die ihr an den Internationalen Filmfestspielen in Berlin einen Silbernen Bären einbrachte.
Mit diesen beiden Filmen begann auch die Schauspielkarriere von Kacey Mottet Klein, und sie sind Ausdruck des Talents der Regisseurin für die Schauspielerführung. 2016 erhielt Ursula Meier den Schweizer Filmpreis für den besten Kurzfilm für die Kleine Kinoschule „Kacey Mottet Klein, Anfänge eines Schauspielers“.